Wie die systemische Strukturaufstellung online geht

Interview mit Matthias Varga von Kibéd

«Systemische Strukturaufstellungen lassen sich sogar dann online durchführen, wenn der Klient und die Repräsentanten alle an verschiedenen Orten sind»

Matthias Varga von Kibéd vom SySt® Institut erzählt uns über seine bisherigen Erfahrungen und seine Absichten, aufgrund der Corona-Krise vermehrt auf Online-Aufstellungen und -Seminare zu setzen. Das Interview hat Ende März 2020 per Telefon stattgefunden, als die meisten Länder Europas einschneidende Massnahmen ergriffen, um die Corona-Pandemie einzudämmen.

Autor: Sandro Küng, März 2020


Matthias Varga von Kibéd, was ist notwendig an Material, Technologie und Umständen, damit eine systemische Strukturaufstellung online funktionieren kann?

Online-Aufstellungen waren für mich bisher keine Notwendigkeit, sondern nur etwas, das mich für künftige Entwicklungen interessierte. Dann fangen wir mit etwas Zukunftsmusik an: Ich werde zum Beispiel mit Geräten arbeiten, die Facetracking unterstützen. Dies ermöglicht mir, mich im Raum zu bewegen, so dass mir dabei die Kamera folgt, ohne dass ich dafür jedes Mal einen Kameramann benötige.

Facetracking
Unter dem Begriff Facetracking ist die automatische Gesichtserkennung und -verfolgung zu verstehen. Dabei kommt eine Interaktion zwischen Mensch und Computer zustande, wie zum Beispiel durch eine Webcam. Facetracking sorgt dafür, dass eine Webcam automatisch das Gesicht einer Person verfolgt, so dass es immer im Zentrum des Kamerabildes bleibt. Facetracking-Software erfasst aus einer Kombination aus Hautfarbton, Form und Bewegung das Gesicht des Anwenders. Die Software steuert die Webcam durch vertikale und horizontale Kameraschwenks und durch Heran- und Wegzoomen.

Funktionieren denn die Kameras mit Facetracking wirklich schon so gut?

Die Kameras mit Facetracking funktionieren schon ziemlich gut, wenn es um Tanzbewegungen und Gespräche geht. Für Aufstellungen sind sie meines Wissens noch nicht eingesetzt worden. Das will ich im nächsten Monat erproben.

Welche Erfahrungen mit Online-Aufstellungen haben Sie denn bisher gemacht?

Ich habe früher z.B. mithilfe von Skype aufgestellt. Beim Empfänger hatten wir drei Kameras, die das Bild zeigten von der Aufstellung, mit der wir gearbeitet haben, nämlich aus drei verschiedenen Winkeln. Allerdings hatten die damals noch keinen Split-Screen bei Skype, so dass ich auf Zoom wechselte. Zoom ermöglichte schon damals die einzelnen Bildübertragungen in geteilten Bildschirmen, eben als Split-Screen. Im Moment erkundige ich mich über die neuesten Versionen und werde in einem Monat sehr viel mehr wissen, zumal wir in Kürze die ersten Seminare online durchführen werden.

Split-Screen
Split-Screen ist vor allem von den Überwachungsmonitoren bekannt. Mit dieser Technik, wird das Bild auf dem Bildschirm in mehrere Teile "gesplittet", so dass man mehrere Teilnehmende einer Videokonferenz gleichzeitig sieht.

Wie genau verläuft denn so eine Online-Aufstellung über Zoom?

Bei Zoom habe ich die Möglichkeit, dass z.B. zehn Gesichter gleichzeitig auf dem Bildschirm sind. Die einzelnen Gesichter lassen sich hier einzeln vergrössern und verkleinern. Gleichzeitig hat dies den Nachteil, dass sich die Hintergrundgeräusche addieren, so dass es einen Moderator braucht, der dafür sorgt, dass die Teilnehmenden ihr Mikrofon ein und wieder ausschalten, damit man nicht die Summe aller Hintergrundgeräusche hat.

Können Sie den Vorgang anhand eines konkreten Beispiels schildern?

Eine der ersten Aufstellungen, die ich online machte, war so, dass je eine Kamera von zwei verschiedenen Seiten eingerichtet wurde und eine Kamera von der Decke aus. Letztere war wichtig, da ich ja sonst die Anordnung der Leute nur über die verfälschten Winkel sehe. Da war ich in München und hatte in Belgien aufgestellt. Dort war ein Kollege, der zwar die Aufstellungen kennt aber nicht selber leitet. Er stammte selber aus der Hypnotherapie und der lösungsfokussierten Arbeit und hatte für seinen Klienten eine Gruppe von Repräsentanten zusammengestellt. Weil es noch ohne Split-Screen war, fühlte es sich beim Wechseln auf die Vogelperspektive jeweils so an, wie wenn ich aus dem Sessel fliege und über dem Bild hänge und es dann wieder von der Seite sehe.

Das klingt nach Achterbahn...

...und weil man ja selber stark in dieses Körpererleben mit rein gehen muss, wird das sehr, sehr anstrengend dann. Es ist ein ganz anderes Erleben, wenn man das mit Split-Screen macht. Dort kann ich bewusst wählen, von woher ich das Bild anschauen will. In diesem Beispiel hatte ich in Belgien eine Repräsentantengruppe. Also konnte ich ganz normale Anweisungen geben, nämlich, dass sie sich jemanden auswählen dafür oder dafür und fragen ob er bereit ist, als Repräsentant zur Verfügung zu stehen, dass an den Schulterblättern berührt wird usw. Dadurch, dass wir unterschiedsbasiert arbeiten und immer nach Unterschieden in verschiedenen Sinneskanälen gefragt wird, also nach Körperempfindungsunterschieden und mit einem höflichen Desinteresse bei den phantasievolleren Deutungen vorgehen. Das funktioniert online genauso gut.

Was funktioniert denn weniger gut?

Natürlich hätte ich weniger Chance, wenn jemand zum Beispiel laut einatmet oder wenn sich die Pupillenstellung oder die Hautfarbe ändert durch irgendeine emotionale Reaktion. Das kann gegenwärtig online nicht erkannt werden. Folglich muss man sich mehr Zeit nehmen und mehr Details abfragen: „was wurde anders als...?“, „gibt es Unterschiede in der Atmung oder im Herzschlag oder im Gleichgewicht". Ich muss mehr Beispiele nennen, damit die Repräsentanten angeregt sind, mehr physische Unterschiede zu nennen. Wenn der Prozess länger dauert, muss man ab und zu segmentieren.

Was heisst das konkret?

Dass man zum Beispiel alle Repräsentanten sich mal hinsetzen und entrollen lässt, also aus der Repräsentation herausgehen und sich wieder in der Gruppe setzen lässt und mit allen zwischendurch spricht, wo sie gerade sind.Es ist sicherer, wenn man zwischendurch solche Zwischenbefragungsrunden einleitet, also so, wie wenn man eine Kaffeepause einlegen muss.

Welche weitere Unterschiede haben Sie erfahren zwischen normaler Aufstellung und online?

Der Einsatz der kataleptischen Hand. Also da, wo ich mit dem Vorschlag einer Gestik arbeite, können die Leute in jenem Raum, in welchem die Aufstellung stattfindet, mich am Bildschirm sehen. Und ich kann ihnen mit einer Gestik zum Beispiel einen rituellen Satz vorschlagen. Dabei ist es wichtig, dass diese Hand nicht mit einem normalen Muskeltonus, sondern in dieser ungewohnt entspannten, spezifischen Form gehalten wird. Auch wenn das am anderen Ort niemand kennt, ist es machbar.

Die kataleptische Hand
Unter der kataleptischen Hand versteht man eine Haltung der Hand, die zu Dissoziationswahrnehmung bei Klienten führt. Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd haben die aus der Hypnotherapie stammende Technik für systemische Strukturaufstellungen nutzbar gemacht. Die Hand wird dabei durch ein ungewohntes Abwinkeln vom Körper dissoziiert. Folglich wird die Hand als ein Fremdkörper wahrgenommen und kann als Repräsentantin eingesetzt werden.

Ein weiterer Unterschied in der Online-Aufstellung ist folgender: Wenn ich im Raum bin, dann sehe ich ja, ob ein Anwesender beunruhigt oder fragend schaut. Wenn ich nun aber einen Split-Screen habe, dann muss ich dafür sorgen, dass ich wirklich alle Gesichter auf dem Bildschirm habe. Wenn man jetzt 50 Gesichter klein auf dem Screen hätte, wäre das etwas ablenkend und schwierig. In dieser Form Online-Aufstellungen zu machen ginge wohl mit bis zu 15 Gesichtern. Ich habe es schon mit zehn Gesichtern in Zoom-Konferenzen erlebt.

Gibt es noch andere Formen an Online-Aufstellungen?

Ja. Unsere ersten Versuche sind schon ziemlich lange her. Damals haben wir nur normale Telefon- und Faxgeräte benutzt, weil viele der heutigen technischen Möglichkeiten noch nicht zur Verfügung standen. Der vorhin beschriebene einfachere Fall war, dass ich nur zwei Orte hatte, also ein Ort, wo die Gruppe war und ein Ort, wo ich war. Schwieriger ist es, wenn die Leute an mehreren Orten verteilt sind.

Das klingt herausfordernd. Wie geht das?

Hier hilft ein Bild mit der Anordnung der symbolischen Gegenstände, die man als Bodenanker verwenden kann. Dabei kann man Repräsentanten auf die Stellen der Bodenanker gehen lassen und mit der entsprechenden Zuordnung befragen. Früher haben wir uns die Anordnungsveränderung einfach aufgezeichnet und per Fax übermittelt oder – als Fotohandys üblicher wurden – als Foto zugesandt. Statt der Kamera von oben hatte ich einerseits ein Bild von der Aufstellung mit der Bewegung und immer wieder mal eine Aufzeichnung der Gesamtanordnung. Wenn man nicht eine Sammlung von Repräsentanten an einem Ort hat, dann kann man es so machen, dass alle die gleiche Anordnung per Fax haben. Dann kann an Ort A ein Repräsentant in die Position eins gehen und am Ort B ein Repräsentant in die Position zwei. Und alle hören, was die anderen sagen und wissen somit, ah ja, auf Position zwei steht jetzt jemand, der das und das sagt, wie bei einer schriftlichen Aufstellung. Bei dieser steht zum Beispiel der Klient selber bei einer Tetralemma-Aufstellung in der ersten Position und erinnert sich daran, was an der zweiten Position gesagt wurde. Das geht auch in der Einzelarbeit mit Bodenankern, dort ist er selber ja derjenige, der all diese Sachen gesagt hat. Trotzdem kann er es erleben, wie wenn er durch die Erlebnisweisen der verschiedenen Personen hindurchgeht. Das einzige, was dazu erforderlich ist, ist eine gute Separatorensetzung.

Können Sie das erklären?

Also, wenn der Repräsentant die Rolle eins repräsentiert hat, dann muss er eben, bevor er in die Repräsentation zwei geht, beispielsweise ein paar Schritte auf und ab machen sowie Hände und Gesicht reiben. Das geht auch, wenn Repräsentanten an verschiedenen Orten sind. Ideal wäre es, wenn man an jedem der Orte Abgeordnete hätte. Möchte man nun an Ort A etwas über Ort B wissen, könnte man so den Abgeordneten von Ort B befragen. So etwas habe ich bereits zu Zeiten vor Skype und Mobiltelefonie gemacht, allerdings nur in der Einzelarbeit, nicht mit Gruppen. Es war für mich erstaunlich, dass das ging. Erstaunlich war auch, dass die Klienten sehr wohl in die entsprechenden Körperempfindungen hinein gehen konnten.

Ist das eine Voraussetzung, dass man hierfür die Klienten kennt?

Heute etwa mit Zoom kann man die Gesamtanordnung über Bodenanker machen. Dabei kann jeder sich im Raum entweder selber Bodenanker auslegen oder die Anordnung der Bodenanker sich einfach auf einem Papier aufzeichnen oder mit einem entsprechenden elektronischen Mittel, z.B. über einen Virtual Showroom mit VISPA, eines der Bilder im Split-Screen als den Teilnehmenden gemeinsam zugänglicher virtueller Raum mit angeordneten, kontinuierlich verschiebbaren -das ist wichtig für das Miterleben der Bewegung!- und drehbaren Avataren genutzt wird. Solche Ideen zu und erste Anwendungen von Arbeit mit Avataren in VISPA für Strukturaufstellungen mit Repräsentanten in verschiedenen Städten gab es schon bei einem befreundeten Kollegen, Alexander Zock. Beim Diagramm wäre an sich sehr wünschenswert, dass es berührt werden kann. Bei Touchscreens sollte man dafür sorgen, dass es nicht das Bild verändert, wenn man es berührt. Wenn man nun eine solche Anordnung hat, dann kann man mit dem kataleptischen Finger an die verschiedenen Positionen gehen.

Was ist hier der Unterschied zur kataleptischen Hand?

Kataleptischer Finger heisst einfach, man hat eine kataleptische Hand und lässt ein oder zwei Finger nach unten gehen. Ich empfehle eher den Mittel- und Ringfinger zusammen zu nehmen. Es ist wichtig nicht den Zeigefinger zu nehmen, weil dies der bewussteste Finger ist. Wenn man mit dem Zeigefinger die Symbole berührt, dann äussern die Personen meistens das, was sie ohnehin schon wissen. Mit dem Mittel- und Ringfinger dagegen erhält man viel mehr interessante, sozusagen unbewusste Informationen. Ferner hat der Zeigefinger oft eine weniger sensitive Fingerkuppe als der Ringfinger.

Mir scheint, es braucht schon viel Erfahrung, dass jemand online Aufstellungen anleiten kann.

Ja, es gibt da so ganz viele kleine Hinweise, die man geben muss, damit die Menschen, auch wenn man nicht dabei ist, damit gut umgehen können. Also muss man hier etwas mehr in der Anwendung schulen. Generell ist die Idee, wenn man die räumliche Anordnung hat und mit der körperlichen Berührung arbeitet und diese einen vermehrten Zugang zu unterbewussten Prozessen ermöglicht – und das geschieht eben durch die Hand- oder Fingerkatalepsie – dann hat man über die eigenen Hände beziehungsweise Finger geeignete Repräsentanten. Und das können natürlich mehrere Leute an mehreren Orten gleichzeitig machen. So kann zum Beispiel ein Klient ein Tetralemma stellen, also mit den fünf Positionen und dem Fokus. Dann könnte man es so machen, dass jeder der sechs Repräsentanten sich sogar in verschiedenen Ländern befindet.

Tetralemma
Das Tetralemma in der systemischen Strukturaufstellung ist eine von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd entwickelte Adaptation eines logischen Schemas aus der indischen Logik für die Anwendung im Bereich von systemischem Coaching, Beratung und Therapie und der systemischen Strukturaufstellung. So soll der Handlungsspielraum bei einem Dilemma erweitert werden.

Können Sie konkret schildern, wie eine Online-Tetralemma-Aufstellung vor sich geht?

Selbstverständlich. Ein Tetralemma wäre über Zoom mit neun oder zehn Bildschirm-Fenstern durchführbar. Ein Fenster für den Klienten, eines für das Anordnungsdiagramm, das wäre eines, das der Klient mit symbolischen Gegenständen, zum Beispiel mit klassischen Bodenankern wie Papierscheiben mit Pfeilen, Symbolen und Buchstaben auf dem Fussboden herstellen kann. Im Prinzip könnte er es auch mit einer schriftlichen Aufstellung von vornherein machen. Aber für die Herstellung des ersten Bildes ist es schön, wenn das mit ein bisschen Bewegung im Raum geschieht. Zudem finde ich es sehr wichtig, dass jemand vom Klienten als in seinem virtuellen Raum mitanwesend erlebt wird, der dem Klient eine Anweisung geben kann. Ein Freund und Kollege, Gábor Vozári, entwirft dazu derzeit diverse Möglichkeiten bewegter Graphiken für Online-Aufstellungen.

Zum Beispiel?

"Achten Sie jetzt bitte darauf, dass er an der Stelle mit den Fusssohlen den Boden gut berührt", "geben Sie ihm einen Moment Zeit", "achten Sie bitte darauf, dass er sich zwischendurch setzt und ein Glas Wasser nimmt". Diese Person muss gar nicht viel vom Verfahren verstehen, sondern einfach nur den Anweisungen stellvertretend beim Klienten folgen. Wenn man ein Bild hat für den Aufstellungsleiter, dann eines für den Klienten, eines für das Anordnungsbild, dann haben wir noch sieben Bilder frei für Repräsentanten, zum Beispiel für den Fokus, die fünf Positionen und dann noch ein Bild für den Moderator eher als Techniker. Auf diese Weise könnte man an verschiedenen Orten arbeiten.

Wäre das auch mit Figuren möglich?

Ja, man könnte an den verschiedenen Orten auch mit Figuren stellen. Das habe ich allerdings erst einmal probiert. Dann wäre es wichtig, dass alle die gleichen Figurensätze haben, damit es keine Verwirrung gibt, weil jemand mit grossen und jemand mit bunten Figuren arbeitet. Die Leute sollten möglichst ohne Irritation das Bild wieder erkennen. Ich finde es günstig, wenn die Figuren aus Materialien bestehen, die jemand gerne berührt, und dass man Figuren nimmt, die man sich eher am Tisch einer Geschäftsleitung vorstellen könnte, die über eine Strategie nachdenkt. Das sind die grammatischen Elemente aus der Arbeit mit symbolischen Gegenständen und der systemischen Einzelarbeit, die von besonderer Bedeutung werden, wenn wir online und an verteilten Orten arbeiten.

Können Sie uns erklären, wie eine systemische Strukturaufstellung funktioniert, wenn der Repräsentant nicht im selben Raum sitzt?

Da müsste ich ein klein bisschen philosophisch ausholen. Zunächst ist es so: Es gibt zwei Dinge, die hier als Schwierigkeit auftreten, wofür wir relativ früh eine Widerlegung dafür hatten, dass man überhaupt so arbeiten kann. Das eine war die Frage, müssen die Repräsentanten berührt werden? Da haben wir die Erfahrung gehabt, dass wenn wir mit Behinderten gearbeitet haben, die jetzt nicht im Rollstuhl dauernd durch das Bild rollen konnten und Anordnungen nicht selber vornehmen konnten oder wenn die Repräsentanten sehbehindert waren. Wie arbeitet man da? Da haben wir zum Beispiel festgestellt, wenn die Repräsentanten nicht berührt werden, dass dann die Aussagekraft der Bilder enorm abnehmen kann; sie werden dann schnell beliebig und uninteressant. Also haben wir es so gemacht, dass der Repräsentant zum Rollstuhlfahrer, wenn das der Klient war, hingegangen ist, dieser hat den Repräsentanten am Rücken berührt und ihn dann mit der Stimme gesteuert. Auf diese Weise mit der Anfangsberührung funktionierte es. Also schien diese Berührung sehr wichtig zu sein. Das kann ich ja nicht, wenn ich hier bin und der Betreffende an einem anderen Ort.

Klingt plausibel. Was war die zweite Schwierigkeit?

Die zweite Schwierigkeit war, dass sehr viel unterbewusste, subliminale Wahrnehmung bei wechselseitiger Abstimmung der Repräsentanten im Verhältnis zueinander eine wichtige Rolle bei der Gesamtwirkung des Bildes spielte. Wir haben geschaut, ob sich das minimieren lässt, indem wir zum Beispiel Aufstellungen gemacht haben, wo wir jeden Repräsentanten in ein anderes Zimmer gestellt haben. Da wir nicht ganze Schlösser zur Verfügung hatten, haben wir das nur mit kleinen Gruppen gemacht. Einmal waren das ein Klient und sieben Repräsentanten. Dann musste die Aufstellungsleitung dauernd im Haus herumgehen und die anderen Repräsentanten in den anderen Zimmern fragen, was sich da gerade geändert hat. Es wunderte mich nicht allzu sehr, dass nicht mehr viel Interessantes dabei herauskam. Also hatten wir den Eindruck, dass sie im selben Raum sind war wichtig und dass sie berührt werden können war wichtig. Diese zwei Erfahrungen hatten wir ja vor unseren ersten Experimenten mit Online-Aufstellungen. Es klang zunächst so, als könnte das nicht gehen, zumal die Leute online nicht im selben Raum sind, sondern zum Beispiel an zehn verschiedenen Orten und wenn der Klient am einen Ort ist und der Repräsentant am anderen Ort haben wir die Berührung nicht.

Und trotzdem habt ihr euch ans Online-Experiment gewagt?

Bei der vorhin erwähnten ersten Online-Aufstellung noch über Skype mit den drei Kameras, da hatte ich wenigstens den Klient und die Repräsentanten im selben Raum, nur ich war woanders. Das stellte kein Problem dar, zumal die Repräsentanten zusammen waren und berührt werden konnten. Aber mich interessierte, ob es auch dann geht, wenn alle Beteiligten an verschiedenen Orten sind. Also die Arbeit mit systemischer Strukturaufstellung in einer bestehenden Arbeitsgruppe und allgemeiner, transverbalen Verfahren. Unter den gegenwärtigen Bedingungen (Corona-Krise, Anm. d. R.) haben wir eine erhöhte Anregung, solche Sachen machen zu können, ohne, dass die Beteiligten reisen müssen. Und da müssten diese zwei Probleme gelöst werden, dasjenige mit der Berührung und das Erleben der wechselseitigen Abstimmung, wenn alle im selben Raum sind.

Und wie lösen Sie das?
Ich habe einfach zwei Gedanken kombiniert. Nämlich den Gedanken, dass es ja systemische Einzelarbeit mit Strukturaufstellungen gibt; dort arbeiten wir unter anderem mit Bodenankern, mit symbolischen Gegenständen und mit kataleptischer Hand und kataleptischen Fingern und Diagrammen, die bei schriftlichen Aufstellungen dann mit den Fingern berührt werden. Aber da habe ich immer noch nicht die Möglichkeit, dass das Symbol A von einer Person 1 und das Symbol B von einer Person 2 berührt wird. Wenn ich mit Bodenankern arbeite, kann der Klient diese zunächst legen und dann sagen, wer zu welchem Bodenanker gehen soll. Dabei gehen die verschiedenen Repräsentanten an die verschiedenen Bodenanker. Die Bodenanker können dabei ohne weiteres in den verschiedenen Städten gelegt werden, wo sich die Teilnehmenden gerade befinden. Aber wie schafft man jetzt, dass die an verschiedenen Orten Befindlichen auch die anderen quasi als anwesend empfinden und einander gemeinsam als konstruktive Gruppe? Dieses dritte Problem lässt sich durch geeigneten Umgang mit der Gruppenstruktur und einen geeigneten Rhythmus im Wechsel von Plenum, Demonstration und Aufspaltung in Teilübungsgruppen lösen; der virtuelle Raum wird so bald als ein gemeinsam belebter und schützender Raum erfahrbar.

Moment bitte, wie wird das Problem der Berührung gelöst?

Das geht so. Man kann ja sagen, berührt bitte Gegenstand A. Jetzt gibt der Klient die Anweisung und jetzt wird Gegenstand A im Raum verlegt. Dadurch erlebt jeder, wie das Diagramm hergestellt wird. Natürlich werden die Diagramme gewisse Unterschiede aufweisen. Daher dient das eine Diagramm, das sich im Raum befindet, in dem der Klient selber ist, für alle als Vorbild. Dann sollen alle ihre kleinen Änderungen vornehmen, die sie vielleicht noch brauchen, um ihre Anordnung der Gegenstände als ähnlich genug zu empfinden. Man hat jetzt zum Beispiel eine Anordnung dieser sechs Gegenstände des Tetralemmas. Jeder der künftigen Repräsentanten hat selber ein solches Diagramm mithergestellt, hat also selber erlebt, wie die Repräsentanten dorthin geschoben werden.

Und alle Repräsentanten haben die Gegenstände berührt, jedoch unterschiedliche Gegenstände?

Genau. Dann wird das, was er so erlebt hat, korrigiert. Dann hat er entweder das Diagramm durch Gegenstände bei sich oder ein Papierdiagramm. Die Gegenstände sollten hinreichend einheitlich sein, etwas, das die Leute verfügbar haben, zum Beispiel Papier mit Pfeilen, damit sich die Bilder nicht zu sehr unterscheiden. Dadurch hat jeder auch ein Erlebnis, wie es war, an diesen Platz zu kommen. Die betreffenden Repräsentanten gehen dann, wenn sie es mit Bodenankern machen, wirklich an diesen Platz. Also der Repräsentant für die erste Position hat ein Tetralemmabild am Boden und geht jetzt selber in die erste Position. Der Repräsentant für die zweite Position hat das gleiche Gesamtbild entstehen sehen – zumindest ein hinreichend ähnliches – und steht jetzt selber an der zweiten Position.

Analog funktioniert das auch mit Papier?

Ja. Hier haben alle ein Papier-Diagramm vor sich. Der eine muss dann die Position eins mit dem kataleptischen Finger berühren und der andere die Position zwei. Und da die alle jetzt ein körperliches Erleben mit dem An-den-Platz-Kommen verbinden und die Entstehung des Diagrammes im eigenen Raum, in dem sie sich gerade befinden, erleben, nehmen sie daran Teil, wie die anderen Personen Unterschiede berichten. Und zwar in Echtzeit, direkt. Und darum kann ja in einer Diskussion, wo man längere Zeit in einem Chatraum mit Bildfunktion ist, auch ein echtes Gruppengefühl entstehen, was wesentlich schwerer ist bei einer reinen Telefonkonferenz. Hier sieht man die anderen und vollzieht sogar noch ähnliche Bewegungen, hört die Stimmmodulation, es können dazwischen Fragen gestellt werden und nach unterschiedlichen Körperempfindungen gefragt werden. Darum ist es so wichtig, dass nach Unterschieden gefragt wird und nicht nach absoluten Werten. Daher ist die Frage "wie geht es dir, wie fühlst du dich?" aus Sicht von Insa und mir in gewissem Sinne eine Art Kunstfehler. Wir fragen "was hat sich für dich geändert seit du an diesen Platz gekommen bist und was wurde anders, als das und das geschah oder soundso das sagte oder von dort nach dort ging?" So, jetzt hat man also das Problem der Herstellung des Bildes und wie sie im gleichen Raum sind gelöst.

Wie kriegt jetzt der Klient das Erlebnis, dass er die Repräsentanten an den Platz geführt hat?

Das geht auf zwei Weisen. Er sieht den Original-Repräsentanten im Bild und bewegt den symbolischen Gegenstand im Raum, also er nimmt beispielsweise ein Blatt Papier in die Hand und bringt dieses an einen Platz und bittet den Repräsentanten in einer anderen Stadt diese Bewegung mitzumachen und eben auch diesen Bodenanker an den Platz zu legen. Da die Leute einzeln sind, müssen sie, nachdem sie den Platz erreicht haben, sich dann entrollen. Schliesslich müssen sie die anderen Blätter ja noch selber legen. Wir haben ja an jedem Platz nur einen Repräsentanten. Aber nachdem das gesamte Tetralemmabild mit den sechs Repräsentanten gestellt worden ist, geht jetzt jeder der Repräsentanten an den Platz, den er wirklich repräsentiert hat. Das Problem mit der Berührung ist jetzt gelöst. Der Klient hat den symbolischen Gegenstand gelegt und hat erlebt, wie der Repräsentant sich an diesen Platz bewegt. Und das ersetzt die Berührung.

Wow.

Und wenn man jetzt die Betreffenden unterschiedsbasiert befragt, dann bekommt man nach einer relativ kurzen Zeit eine sozusagen echte Atmosphäre, wie in einer Gruppensimulation, die man im selben Raum durchführt. Ich erzeuge also sozusagen in diesem Fall für die sechs Repräsentanten und den Klienten in diesem Sinne sieben virtuelle Räume, die ausreichende Struktur-Isomorphien haben, so dass man sie als nur verschiedene Beleuchtungen desselben Zusammenhanges sieht. Also, wenn man bei einer Konferenz zwei Bilder hat, bei der man die Konferenz einmal von links und einmal von rechts aufgenommen sieht. Dann sind das ja auch Bilder, die hinreichend viel Ähnlichkeiten haben, obwohl sie verschiedene Perspektiven haben. Hier ist es dann das Aufstellungsbild aus sieben Richtungen. Aus sechs Richtungen für die sechs Repräsentanten und man hat immer noch den Blick zum Klienten. Der Klient hat das Gesamtbild und kann in jede der sechs Positionen eingeladen werden und dann mit Separatorensetzung wieder rausgehen und in eine andere Position gehen. Auf die Weise habe ich das Problem mit der Berührung und das Problem mit der Gleichzeitigkeit gelöst. Streng genommen macht man damit eine Art Einzelarbeit mit jedem dieser sechs, nur dass es dabei um den einen Klienten geht. Wenn man mit dem anfängt und es jemand macht, der noch nicht ganz so viel Erfahrung hat mit Aufstellungen, dann ist mit sechs Repräsentanten schon eine gewisse Herausforderung. Aber wenn man mit dem partiellen Tetralemma arbeitet oder eine Aufstellung mit ausgeblendeten Themas oder einer partiellen Zielannäherungs-Aufstellung oder einem Verhandlungsmodell zwischen drei Personen – das alles kann man schon viel früher machen.

Transverbale Sprache
Systemische Strukturaufstellungen  von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd werden als transverbale Sprache aufgefasst, die die verbale Sprache und die nonverbale Sprache der Repräsentanten umfasst und zusätzlich die räumliche Anordnung der Repräsentanten zueinander als symbolische Mitteilung berücksichtigt.